Bewegungsfreiheit

Als Orthopäde beschäftige ich mich täglich mit dem Körper. Patienten kommen zu mir mit Schmerzen, Fehlstellungen und/oder einer schlechten Gelenkfunktion. Nachdem ich die Untersuchung durchgeführt habe, dokumentiere ich das Ergebnis. Und schreiben dann vielleicht folgendes auf: „Knie rechts: freie Beweglichkeit, …“. Und nicht nur ich dokumentiere so die Funktion, dasselbe lese ich auch bei vielen meiner Kollegen. Doch was ist eigentlich freie Beweglichkeit?

Beweglichkeit beschreibt eine passive Änderung der Lage oder Funktion. Der Begriff beweglich bedeutet laut Duden „sich bewegen lassend“. In diesem Fall also, dass das Knie sich frei bewegen lässt. Doch so ganz richtig ist dies nicht. Ein Knie lässt sich nicht vollständig frei bewegen. Am Ende der Bewegung gibt es auch bei gesunden Kniegelenken einen Anschlag – eine Grenze der Bewegung. Warum wird dann in so vielen Fällen – und auch ich mache das gelegentlich – von freier Beweglichkeit gesprochen. Anscheinend werden die in diesem Fall von der Natur aus vorgegebenen Grenzen der Beweglichkeit eines Kniegelenks akzeptiert und alles, was innerhalb dieser Grenzen geschieht, als „frei“ bezeichnet. Apropos frei: auch hier gibt der Duden eine Definition: „sich in Freiheit befindend, unabhängig“. Wenn ein Kniegelenk eine „freie Beweglichkeit“ zeigt, passt das irgendwie nicht zusammen. Auf der einen Seite lässt es sich bewegen, auf der anderen Seite soll es unabhängig sein. Letztendlich fehlt die aktive Komponente. Glücklicherweise habe ich keine leblosen Patienten vor mir, fast jeder ist in der Lage, sein Knie selbst zu bewegen. Der eine mehr, der andere weniger. Und ein aktives Bewegen, sei es eines Gelenks oder des gesamten Körpers ist ein Ausdruck von Leben.

Leben ist Bewegung

Unterschiedliche Definitionen von Leben werden in den Natur- und Geisteswissenschaften verwendet. Um Leben zu definieren, müssen je nach Autor mehrere Charaktereigenschaften vorliegen. Wichtige Eigenschaften sind die Fähigkeiten zum Wachstum, sich zu vermehren, auf die Umwelt zu reagieren und Energie zu verwalten. All diese beinhalten eine aktive Komponente. Sie erfordern eine Möglichkeit zur Veränderung und aktiven Interaktion mit der Umwelt. Das bedeutet, dass in jedem dieser Prozesse Bewegung steckt. Somit gilt für mich: Leben ist Bewegung.

In unserer Gesellschaft besteht ein Recht auf Leben. Freiheit zu leben ist gleichzeitig auch Freiheit sich zu bewegen. Nicht ohne Grund ist die körperliche Bewegungsfreiheit als Freiheit der Person in unserem Grundgesetz verankert. Doch Bewegungsfreiheit geht weit über eine juristische Beschreibung hinaus. Denn Bewegung ist viel mehr als nur die Position oder Lage des Körper eines Menschen zu verändern. Bewegung ist nicht nur körperlich. Bewegung kann im Kopf stattfinden, bewusst oder unbewusst. Es gibt soziale Bewegungen und politische Bewegungen.

Grenzen limitieren Bewegung

Bewegung kann limitiert sein. Grenzen und Barrieren schränken Bewegung ein. Manchmal sind diese Grenzen sinnvoll und schützen vor Gefahren. Manchmal sind sie beengend. Einige Grenzen sind tatsächlich zunächst unverrückbar. Viele Grenzen sind bewusst gesetzt, einige willkürlich. Viele Grenzen setzen wir uns selbst. Vielleicht auch, um uns selbst zu schützen. Aber oft setzen wir diese willkürlich, weil wir nicht wissen, was sich hinter den Grenzen befindet. Oder wir Angst davor haben. Hierdurch schränken wir unseren Bewegungsradius ein, setzen uns selbst Grenzen, die uns limitieren.

Aber nicht nur uns setzen wir Grenzen. Auch anderen. Sei es nun auf Grund von Richtlinien, Anweisungen, Vorschriften oder Regeln. Am Arbeitsplatz oder in der Familie. Auch hier sind manche Grenzen sinnvoll – und manche willkürlich.

Es geht mir nicht darum, Grenzen und Regeln grundsätzlich in Frage zu stellen. Viele sind wirklich sinnvoll. Ein Zaun vor einem Abgrund schützt Menschenleben. Ein Gesetz schützt die Gesellschaft und das Gemeinwohl und muss respektiert werden. Die Entscheidung in und mit einer Gemeinschaft zu leben, ist eine Entscheidung für deren Wertvorstellungen. Übergeordnete Werte und Normen geben eine gute Grundlage für die Beurteilung der Richtigkeit von Grenzen. Und auch persönlichen Grenzen unterstehen persönlichen Normen und Werten. Einstellungen und Ansichten bestimmen, wo wir Grenzen sehen. Jemand, der überzeugt ist, schlecht in der Schule zu sein, ist schlecht in der Schule. Wer mit Spaß in die Schule geht und eine Arbeit als Herausforderung sieht, hat in den allermeisten Fällen auch gute Noten. Umgekehrt ist es einfach, Grenzen zu verschieben. Werte und Norm werden nicht schnell geändert. Aber Einstellungen und Ansichten können bewusst verändert werden und somit verändern sich auch geistige – und körperliche – Grenzen.

Bewegung bewegt das Denken

Denn auf den einzelnen Menschen betrachtet sind körperliche und geistige Bewegung eng miteinander verknüpft. Studien konnten zeigen, dass alleine schon die regelmäßige Vorstellung einer Kraftübung – ohne diese tatsächlich durchzuführen – nach kurzer Zeit zu einer Steigerung der Maximalkraft führt. Wird nun eine Übung, zum Beispiel die Beinstreckung mit geringer Intensität, aber unter Vorstellung einer maximalen Belastung, regelmäßig durchgeführt, konnten die Probanden einen Kraftgewinn von mehr als 20% erzielen. Alleine daran zu denken, sich zu bewegen, führt zu körperlichen Veränderungen und „trainiert“ den Körper mit einem entsprechendem Trainingseffekt. Gut zu beobachten ist dies vor Skirennen: Skirennläufer gehen im Geist die Strecke durch fühlen jeden Schwung und jede Unebenheit auf der Piste – sie visualisieren ihr Rennen im Vorfeld. Aber auch in anderen Sportarten werden diese Methoden verwendet. Sei es nun der Tennisspieler, der seinen Aufschlag zuvor visualisiert, der Bobfahrer, der die Strecke im Geist abfährt oder der 100 m Läufer, der versucht, jeden Schritt und den Erfolg vor dem Rennen zu spüren.

Bewegung fördert Kreativität

Bewegung führt zu Weiterentwicklung. Gebe ich Bewegung mehr Platz, ist mehr Entwicklung möglich. Alle Erwachsenen und vor allem alle Kinder brauchen Bewegung, brauchen Platz und brauchen Bewegungsfreiheit. Nur so können Sie sich körperlich und geistig bestmöglich weiterentwickeln, sozial interagieren und geistig aktiv sein. Grenzen, die Eltern vorgeben, sollten vor wirklichen Gefahren schützen und vor allem nicht willkürlich sein.

Tatsache ist, dass Grenzen nicht nur die Bewegungsfreiheit sondern auch das Denken einschränken und somit auch das Ausmaß der Kreativität genau bis zu dieser Grenze geht. Wer in der Lage ist, über Grenzen hinaus zu denken, steigert seine Kreativität, entwickelt neue Ideen und Lösungsansätze und ist in der Lage seine und die Grenzen anderer zu verschieben.

Kleine Bewegung mit großer Wirkung

Und es muss nicht immer gleich ein ganzer Mensch sein, der sich bewegt. Einzelne Gelenke und Muskeln können sich bewegen. Die Bewegung vieler Gelenke und Muskeln führen zu einer harmonischen Bewegung des gesamten Körpers. Einzelne kleine Bewegungen sind dann oftmals nicht mehr erkennbar und verschwinden in der Gesamtheit des Systems. Umso wichtiger ist, dass jedes Gelenk seine eigene Bewegungsfreiheit hat. Hier bedeutet Bewegungsfreiheit die Bewegung eines Gelenkes innerhalb der anatomisch vorgegebenen Grenzen. Ist das nicht der Fall, müssen angrenzende Gelenke oder Teile des Körpers die Bewegungseinschränkung kompensieren. Und auf einmal sieht die Bewegung des Körpers vielleicht nicht mehr harmonisch aus. Es kommt zu einer Überlastung anderer Gelenke und Muskeln und hierdurch auch zu einer Schädigung mit anschließender Bewegungseinschränkung. Insofern ist es wichtig, die Beweglichkeit eines Gelenkes, einer Region oder einer Gliedmaße so gut wie möglich wiederherzustellen, um Harmonie zu schaffen und weiteren Schaden anderer Regionen abzuwenden.

Bringen Sie sich selbst in Bewegung

Wenn Bewegung nicht nur körperliche, sondern auch geistige Grenzen verschieben kann, sollten Sie Bewegung fest in ihren Alltag integrieren. Ausreden zählen nicht und sind auch nur Grenzen, die wir uns selbst setzen. Diese sind entweder willkürlich oder so fest in unseren Einstellungen verankert, dass sie für gegeben gehalten werden. Sich nicht zu bewegen, ist in den meisten Fällen eine aktive Entscheidung. Eine Entscheidung gegen körperliche und geistige Weiterentwicklung und gegen körperliches und geistiges Wohlbefinden.

Helfen Sie anderen, sich zu bewegen

Unzählige Methoden werden angeboten, unterrichtet und verkauft, um Menschen weiterzuentwickeln. Die einfachste Methode ist jedoch, jemanden in Bewegung zu bringen. Da Körper, Geist und Psyche eng miteinander verknüpft sind, hat schon eine Veränderung in einer dieser Bereiche unweigerlich eine Auswirkung auf die anderen beiden. Sehr gut kann dies bei Kindern gesehen werden: Kinder, die regelmäßig Sport machen, sind kreativer, oft besser in der Schule, haben mehr soziale Kontakte und ein besseres Selbstbewusstsein. Sie lernen ihren Körper besser kennen, spüren intuitiv, was gut für sie ist, haben im späteren Leben weniger gesundheitliche Probleme und leiden seltener unter Übergewicht. Das trifft aber nicht nur auf Kinder zu. Vergleichbare Ergebnisse können auch Erwachsene erzielen. Durch regelmäßige Bewegung werden Einstellungen und Ansichten verändert. Oftmals werden sogar Wertvorstellungen positiv beeinflusst. Dies ist der große Einfluss des Sports auf Geist und Psyche. Nicht umsonst ist die Bewegungstherapie die Basis zur Behandlung einer Depression und wird früh in das Therapieschema integriert.

Erlauben Sie sich und anderen mehr Bewegungsfreiheit. Setzen Sie Bewegung bewusst ein, um ihren Geist anzuregen und positive Emotionen zu stärken. Nutzen Sie ihre Bewegungsfreiheit, suchen Sie nach Grenzen, die sie limitieren und überwinden sie diese. Das Ziel muss sein, körperliche, geistige und emotionale Bewegung zu ermöglichen. Und sollte Bewegung eingeschränkt sein, muss das Ziel sein, sie zu verbessern.

Zurück zum Knie

Tatsächlich ist es so, dass ich regelmäßig auch die passive Beweglichkeit eines Gelenks überprüfe. Sie kann neben der aktiven Beweglichkeit auch wertvolle Informationen über das Gelenkspiel und das Endgefühl einer Bewegung und Hinweise auf eine Funktionsstörung oder Schädigung geben. Doch ganz so frei ist eine Bewegung nie – wir müssen uns nur klar über die Grenzen sein, diese verstehen, interpretieren und überlegen, ob es sinnvoll und nützlich ist, eine Grenze zu verschieben.